Von Sven Jessen
DILLENBURG/WETZLAR. Es ist schon bizarr. Die Besten aus dem Schützenbezirk Lahn-Dill dürfen in ihren Ligen seit Monaten nicht antreten. Die bekannten Gründe: Kontaktbeschränkungen, Lockdown, Eindämmung der Infektionsgefahr. Doch bei den Europameisterschaften in knapp vier Wochen sollen die „Profis“ unter den Amateuren trotzdem glänzen. Am anderen Ende des Leistungsspektrums spielt sich ähnlich Bizarres ab: Am 2. Mai soll in Hüttenberg ein Schieß-Event auf Bezirksebene stattfinden. Haben die Schützen etwa einen Weg gefunden, um die „Bundesnotbremse“ auszuhebeln?
Nein, so ist es nicht. Bezirksschützenmeisterin Dunja Boch macht auf Nachfrage der Redaktion klar, dass die Schützen in „Notbremse“-Zeiten keinesfalls aufs Gaspedal gestiegen sind, und dass die Behörden die Bremse weiterhin angezogen halten. Denn wie überall im Amateursport sind auch den Schützen Wettkämpfe bis einschließlich 30. Juni verboten, sofern die Inzidenzwerte an drei aufeinander folgenden Tagen über 100 liegen und die „Bundesnotbremse“ in Kraft ist.
Was das Training betrifft, so herrscht in körperkontaktfreien Sportarten wie dem Schießen zurzeit eine Beschränkung auf zwei Erwachsene, die sich gleichzeitig auf einem Schießstand aufhalten dürfen und das auch müssen. In der Praxis bedeutet das: Eine Person trainiert, die andere führt qualifiziert Aufsicht, könnte also beispielsweise Erste Hilfe leisten. Trainer oder Zuschauer sind nicht zugelassen. Eine Kontaktsportart wie Tanzen wiederum dürfte nicht einmal trainiert werden, selbst wenn die beiden Beteiligten außerhalb des Sports Tisch und Bett miteinander teilen sollten.
Und doch eröffnet die „Bundesnotbremse“ einen Spielraum, den die Schützen nutzen wollen, damit ihre sportlichen Aktivitäten nicht vollends zum Erliegen kommen: In Abstimmung mit den Kreisbehörden werden Wettkämpfe zu Trainingsschießen erklärt, und aus Mannschaftswettbewerben werden – sofern das organisatorisch zu leisten ist – inoffizielle Einzelschießen.
Alles wie gehabt, nur unter anderen Bezeichnungen? So ist es nicht. In einem Rundschreiben eröffnete Dunja Boch Ende der vergangenen Woche den Vereinen, welche Teile des Wettkampfprogramms unwiederbringlich verloren sind.
Am Sonntag sollen erste Ergebnisse zustandekommen
Nachdem bereits die Hessenmeisterschaften in allen Disziplinen abgesagt worden waren, sind nun auch Teile der Bezirksmeisterschaften nicht mehr zu retten. 2021 wird es mit der Zentralfeuerpistole sowie in den Mixed-Wettbewerben mit dem Luftgewehr und mit dem Kleinkalibergewehr keine Bezirksmeister geben. Schützen, die sich in diesen Disziplinen über die Bezirkstitelkämpfe für die „Deutschen“ qualifizieren wollten, müssen sich von diesem Gedanken verabschieden.
Noch nicht abgesagt, aber zeitlich verschoben wurden die Bezirksmeisterschaften in den Disziplinen Zimmerstutzen Auflage, die für den 2. Mai in Hüttenberg vorgesehen waren, und die Bezirkstitelkämpfe in der Luftgewehr-Dreistellung, die am 8. Mai in Haiger hätten stattfinden sollen. Die Meldefristen für die Deutschen Meisterschaften liegen in diesen Disziplinen noch weit genug entfernt, um auf einen Nachholtermin hoffen zu dürfen.
In weiteren Disziplinen wird der Schützenbezirk Lahn-Dill abwarten, was sich auf Hessen- und Bundesebene in den kommenden Tagen ereignet. Bezirksschützenmeisterin Dunja Boch teilte den Vereinen hierzu mit: „Da noch keine Informationen des HSV bzw. DSB vorliegen, ob die DM ausgetragen wird, möchte ich Euch noch etwas um Geduld bitte. Ich rechne damit, dass zum 1. Mai die Entscheidungen des DSB vorliegt. Momentan sind wir aber noch an die vorgegebenen Meldetermine gebunden und damit auch an unseren Zeitplan.“
Die große Überraschung nach Einführung der „Bundesnotbremse“: Am 2. Mai sollen in Hüttenberg trotzdem Ergebnisse auf die Scheiben gebracht werden.
Für die Bezirksmeisterschaften in der Disziplin Zimmerstutzen hatten neun Männer aus drei Vereinen gemeldet, wobei für Sonntag mit der einen oder anderen kurzfristigen Absage zu rechnen ist. Der Wettkampf wird nun als Trainingsschießen stattfinden, zu dem die Schießaufsicht nach und nach (beispielsweise im Abstand von etwas mehr als einer Stunde) einen Teilnehmer nach dem anderen auf den Schießstand bitten wird. Geselliges Miteinander? Entfällt auf diese Weise.
Auf diese Weise hätten die Schützen den gesetzlichen Vorgaben für die Ausübung des Schießsports (der eine Aufsicht vorschreibt) wie der „Bundesnotbremse“ (die maximal zwei Beteiligte im Trainingsbetrieb gestattet) gleichermaßen genüge getan. Die erzielten Resultate wären zwar keine offiziellen, aber unter Umständen tauglich für die Zulassung zur Deutschen Meisterschaft.
Es klingt nach einer Trickserei. Es ist aber keine, weil das vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite kontaktlosen Individualsport zu Trainingszwecken ausdrücklich erlaubt.
Andererseits: Von der Magie des Schießsports bleibt unter den aktuellen Gegebenheiten eben auch kaum mehr übrig als ein paar Taschenspielertricks – schlechte Kompromisse, die den gewohnten Wettkampf mit seinen taktischen Möglichkeiten im unmittelbaren Duell der Konkurrenten gegeneinander nicht ersetzen können. Dies wird mit Blick auf die Rundenwettkämpfe klar.
Die Kleinkaliberwettkämpfe hätten eigentlich im April beginnen sollen. Der Rundenstart ist inzwischen auf den Mai verschoben worden. Auch dann wird es nur noch ein Trainingsschießen geben, das sich offiziell „internes Vergleichsschießen“ nennt, kündigte Dunja Boch an. Es läuft also auf Einzel- und Fernwettkämpfe zur Kontrolle des individuellen Leistungsstandes hinaus.
„Notbremse“ gestattet Individualsport ausdrücklich
Die erzielten Einzelresultate könnten anschließend zwar zu Mannschaftsscores addiert werden. Außerdem wäre es möglich, eine Tabelle zu erstellen. Allerdings: Es wird eine Runde ohne echten sportlichen Wert sein. Aufstieg und Abstieg sind ausgesetzt. Mannschaftsrückzüge sind möglich und werden nicht bestraft. Erste Absagen würden bereits vorliegen.
Die Kleinkaliberrunde 2021 lässt sich auf diese Weise nicht retten. Dunja Boch verteidigt den Versuch, den möglichen Spielraum trotzdem auszuloten, denn welche Sportart würde es nicht tun? Sie sagt: „Klar, das ist kein Ersatz für den Wettkampfsport. Aber der Bezirk will seinen Aktiven wenigstens dieses Angebot machen.“
Die Bezirksschützenmeisterin würde sich freuen, wenn es die Vereine schaffen würden, ihre drei bis fünf Schützen, die eine Mannschaft bilden, innerhalb einer 14-Tages-Frist zu Einzelterminen auf die Schießstände zu bringen. Das bedeutet für diejenigen, die schießen wollen, einen sehr hohen organisatorischen Aufwand. „Aber die Schützen könnten sich auf diese Weise mit den anderen vergleichen und könnten sehen, wo sie nach diesem langen Lockdown stehen“, sagt Dunja Boch.
Ob dies das Wahre ist, muss jeder selbst entscheiden. Aber es ist eine Möglichkeit, über die viele andere Sportarten seit vergangenem Herbst nicht einmal mehr ansatzweise verfügen. Zu nennen wären die Schwimmer, vor allem aber die Ball- und Mannschaftssportler.